Künstlerisches und soziales Umfeld

Die verschiedenen Maler namens Keller

Um sich von seinen Malerkollegen namens Keller zu unterscheiden, fügte er schon früh seinem Namen Keller den nicht standesamtlichen Zusatz “Reutlingen“ hinzu. Selbst nach seinem Tod behielt seine Witwe Albertine, die nicht aus Reutlingen stammte, diesen Brauch bei. Durch diesen Zusatz machte er seine Geburtsstadt im internationalen Kunsthandel bis nach Amerika bekannt.

Außer dem hier porträtierten Maler Paul Wilhelm Keller-Reutlingen (PWKR) gibt es noch einmal einen Düsseldorfer Maler Ludwig Paul Wilhelm Keller, der sogar fast zeitgleich lebte von 1865-1925 (s. Busse Nr. 42581 und Thieme-Becker).Er war allerdings Portraitist, der ebenfalls in kräftigem, leuchtendem Kolorit malte und etwa gleichzeitig wie unser Maler auch in München und Berlin ausstellte. Anlaß zu Verwechslungen gibt auch Paul Keller, der ein 1950 im Reutlinger Bardtenschlager-Verlag veröffentlichtes Buch “Der Wald ruft“ illustriert hat. Auch er ist nicht mit PWKR identisch.

Der bekannteste aller malenden Kellers ist der schwäbische Maler Friedrich von Keller (1840-1914) aus Neckarweihingen/Ludwigsburg. Nach seiner Akademiezeit in Stuttgart bei Neher und Rustige und in München bei Lindenschmit lebte dieser bis 1883 ebenfalls in München. Anfangs Historien- und Landschaftsmaler entdeckte er das Motiv der kräftigen Arbeiter im Steinbruch und im Eisenwerk.

Zur gleichen Zeit arbeitete auch der Salonmaler Albert von Keller (1844-1920). Er malte Gesellschaften, Portraits und Akte, lebte ebenfalls in München, gehörte der “Sezession“ an, stellte auch im Glaspalast aus und veröffentlichte in der “Jugend“.

 

II Die Familie aus Reutlingen

 

Quelle hierzu ist der Nachlass des Heimatforschers Ulrich Knapp im Stadtarchiv Reutlingen sowie die „“Geschichte der Familie Keller“ von Georg Keller. 

Zu den Sippen, aus denen Paul Wilhelm Kellers Vorfahren stammen, gehören die Schmid, Finckh, Vogelwaid, Engel, Reicherter und vor allem die Kellers, jeweils aus Reutlingen, die Löhlin aus Pfullingen, die Wucherer aus Oferdingen, die Zahn und Buob aus Calw, die Kapff aus Schnaitheim, die Dorner aus Schiltach, die Held aus Bergfelden und die Mayer aus Ludwigstal. 

Thomas Leon Heck konnte sogar nachweisen, vom besten List-Kenner, Prof. Dr. Eugen Wendler bestätigt, daß PWKR mit dem weltbekannten Nationalökonom Friedrich List (1789-1846) verschwägert ist: Kellers Ururgroßmutter väterlicherseits war Marie Magdalene Vogelwaid (1729-1806). Sie hatte denselben Vater nämlich Michael Vogelwaid (1706-1776) wie der zweite Mann Jakob Vogelwaid (1743-1791) von Friedrich Lists Großmutter Maria Barbara Vogelwaid (1732-1793). 

Kellers Urgroßvater mütterlicherseits war der Schiltacher Pfarrer Isaak Dorner (1765-1849), ein nicht unbedeutender evangelischer Theologe. Er war verwandt mit dem sehr berühmten Dogmatiker Isaac Dorner (geb. 1809), der sogar von Karl Barth in dessen Buch “Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert“ (Zürich 1960) gewürdigt wurde, und dem Theologieprofessor August Dorner (geb. 1846). Eine Verwandtschaft Kellers zu der Münchener Malerdynastie Dorner hingegen lässt sich nicht nachweisen. 

Jakob Heinrich Keller (1779-1842) heiratete in die Familie der Finckhs ein durch Verehelichung mit Magdalene Elisabeth Finckh (1786-1851). Vier Großeltern von PWKR sind zwei geborene Finckh, von seinen acht Urgroßeltern sogar drei. Der bekannteste Vertreter der Finckh-Sippe ist der Dichter Ludwig Finckh, ein Freund Hermann Hesses, der auch gelegentlich von PWKR erzählte. 

Über einen gemeinsamen Vorfahren Kurz ist Keller nicht nur mit der Dichterfamilie Hermann und Isolde Kurz verwandt, sondern auch mit dem zweiten berühmten Maler aus Reutlingen, dem Expressionisten Wilhelm Laage (1868-1930). 

Die Kellers, die “Jahrhunderte lang zu den ersten Familien Reutlingens“ zählten (G. Keller, S.127), sind wahrlich eine “alteingesessene“ Reutlinger Familie: Von 30 Vorfahren des Malers wurden mindestens 21 in Reutlingen geboren oder starben hier. Johann Heinrich Keller (1683-1755) erwarb 1717 die Meni-Brigelsche (und heutige) Löwen-Apotheke. Dieser, ein “kunsterfahrener Apotheker“ (G. Keller, a.a.O., S. 128), der “Ahnherr der reichsstädtischen Patrizierfamilie Keller in Reutlingen“(ebda). Sein Sohn war der Dekan und Hauptprediger Johann Heinrich Keller (1735-1810). Dessen Sohn Jakob Heinrich Keller (13.11.1779-19.5.1842) war Seidenhändler und der Großvater von PWKR. Sein heute noch existierendes Grabmal ist abgebildet bei Happe, S. 87. 

 

 

III Der Vater

 

Paul Wilhelms Vater , Heinrich Adolf Keller (20.3.1815-23.9.1890) ist der Sohn dieses Kaufmanns Jakob Heinrich Keller. Heinrich Adolf, einer “der originalen Altreutlinger“ (Finckh) war Sammler von Käfern und hat selbst gezeichnet. Die Stadt Reutlingen besitzt ein dickes, von ihm illustriertes Käferbuch. (s. Heck/Liebchen). Er war sehr reich, zunächst Fabrikant, dann seit etwa 1845 Privatier. Seine Haarfarbe war braun, der Bart war blond, wie übrigens auch die meisten seiner Kinder blond waren. Übrigens auch die Kinder auf Bildern von PWKR. Er war ein Original, modern und ließ einen seiner Söhne Offizier werden, “ein Unikum in Reutlingen“ (Stelzer, S. 127). Franz durfte sogar studieren, musste also nicht den Kaufmannsberuf ergreifen, wie es die Reutlinger Oberschicht gewohnt war. Auch Paul Wilhelm musste nicht Färber von Fellen und Textilien werden, was sein Großvater noch verlangt hatte! Sohn Franz kritisierte aber an seinem Zuhause “ den etwas übergroßen Wert, den man dem Geld beimaß“ und den “maßlosen Preußenhaß“ (F. Keller 1936, S. 116). Heinrich Adolfs Grab ist noch heute auf dem Friedhof ‘Unter den Linden‘ zu sehen. Seine Käfersammlung erbte Paul Wilhelm, die Universität Tübingen erhielt auch einiges.

 

IV Die Mutter

 

Die Mutter des Künstlers war Caroline Louise, geb. Finckh, (22.3.1819-1.4.1871). Sie war korpulent, gottesfürchtig, lesehungrig, wissbegierig, theaterbegeistert, eine Verehrerin des Adels und arbeitete viel im Garten (F. Keller 1936, S. 10f). Beide Eltern unseres Malers waren auch kunstsinnig, wie mehrere Gemälde in ihrem “schönen Zimmer“ belegen. Der Sohn Franz nennt sein Elternhaus gar ein “Künstlerhaus“ (F. Keller, 1970, S. 10).

 

V Die Geschwister

 

Paul Wilhelm war das sechste von acht Kindern, die seine Mutter im Lauf von über 23 Jahren zur Welt brachte. Ihr Ältester, Sohn Adolf, der auch malte, nahm an der Schlacht von Champigny (1870) teil und wurde später durch Verleihung des Kronenordens geadelt.

Franz war im Schwäbischen Albverein von 1892-1933 Vorsitzender des Nordostalb-Gaus. Einen Felsen auf dem Rosenstein bei Heubach schmückt eine Bronzeplakette mit seinem Bildnis. 

Ludwig Finckh widmete ihm einige Szenen in seinem Buch “Verzauberung“ (Ulm 1950, S. 110ff: “der Rosensteindoktor von Heubach, der Höhlenbär“). Auch er war zeichnerisch begabt, wie vier ordentliche Aquarelle von ihm in “Schwabenalb in Wort und Bild“, Verlag des Schwäbischen Albvereins Tübingen 1914, Tafeln 14, 25, 28 beweisen. Gleiches gilt für die Zeichnungen aus dem Jahr 1870 während der Reise ins Allgäu und nach Tirol. Nach U. Knapp sind Franzens und Adolfs künstlerische Arbeiten kaum von Jugendarbeiten Wilhelms zu unterscheiden.

 

VI Persönliche Äußerungen

 

An persönlichen Äußerungen Kellers ist wenig bekannt. Vielleicht seine persönlichste Äußerung findet sich auf einer handgeschriebenen, in Bruck 1902 datierten Karte in gestochen scharfer Schrift (s. Kapitel Autographen):

„Sei nie mit dir zufrieden“.

Es gibt eine eigenhändig geschriebene Postkarte vom 4.5.1904 (im Besitz des Sammlers Wolfgang Gierstorfer) an den Münchener Zahnarzt Dr. G. Henrich. Darin erwähnt er als seine Wanderbegleiter die “Flüggens“, ziemlich sicher die Familie des Malers Josef Flüggen (1842-1906, s. Thieme-Becker)

Am 17.11.1900 unterzeichnete Keller (nach Käss S. 251f) zusammen mit anderen Künstlern eine Postkarte an Dr. Adolph Bayersdorfer, Konservator an der Alten Pinakothek.(War es Bayersdorfer, der den Ankauf eines Bildes von Keller für die Pinakothek in die Wege geleitet hat?). Die unterzeichnenden Künstler hatten sich an der sog. Frölicher-Eiche im Emmeringer Hölzl bei Bruck getroffen, um des 1890 verstorbenen Malers Otto Frölicher (ge. 1840) zu gedenken. Bei den Unterzeichnern handelt es sich um die Münchener Landschaftsmaler Eugen Kirchner (1865-1938), Georg Flad (1853-1913), Otto Gampert (1842-1924), Karl Gussow (1843-1907) und Karl Meyer-Basel (1860-1932) sowie um den Münchener Historienmaler Christian Speyer (1855-1929) und den Karikaturisten Adolf Oberländer (1845-1923), s. jew. Busse.

Weiterhin existiert eine weitere Postkarte von Keller vom 5. Januar 1911an den Direktor der AEG in Berlin, Georg Stern, auf der er sich für den Erhalt von 20 Mark bedankt und ihm im Gegenzug die Zusendung einer Zeichnung verspricht. 

 

VII Das Jahr 1854

 

Um einen Eindruck über den im Jahr 1854 herrschenden Zeitgeist zu vermitteln, sei darauf hingewiesen, daß nur 12 Jahre zuvor in Reutlingen die letzte Hinrichtung eines Straftäters stattgefunden hat (RGB 1993, S. 147).

Im Geburtsjahr selbst verfügte König Max II, von Bayern, daß Kinder unter 11 Jahren nur maximal 11 Stunden arbeiten dürfen – was für ein Kontrast zu den kindlichen Idyllen Kellers!

Im selben Jahr wurde der Glaspalast in München eröffnet, in dem der Maler Jahrzehnte später selbst ausstellen sollte.

Neben PWKR sind Curt Herrmann, Max Kruse und Hugo Mühlig die wohl bedeutensten Künstler seines Jahrgangs.

 

VIII Die Wochenzeitschrift “Jugend“

 

Die Wochenzeitschrift “Jugend“, von 1896-1940 in München erschienen, war so bekannt und stilprägend, dass sie einer ganzen Epoche ihren Namen gab: Jugendstil.

Seit 1896 ist Keller mit Arbeiten dort vertreten. Zwischen 1896 und 1905 waren Gemälde Kellers sogar mindestens 10 Mal auf den Titelseiten der Zeitschrift abgebildet (s. Rubrik „Jugend“.

Der Verleger dieser Zeitschrift, Dr. Georg Hirth (1841-1916), über die Bedeutung seiner Zeitschrift: “ Wenn wir von deutschem Geist in der Griffelkunst und Malerei sprechen, so bin ich so frei, nicht bloß für die Mitglieder der Scholle, sondern für sämtliche Schildträger der Jugend hier eine Ehrentafel zu errichten. Ohne andere gering zu schätzen, setze ich darauf die Namen: Julius Diez, Adolf Münzer, Reinh. Max Eichler, Fritz Erler, Rob. Engels, Max Feldbauer, Fidus, Walther Georgi, Angelo Jank, Walter Püttner, Leo Putz, Paul Rieth, Arpad Schmidhammer, Ludwig v. Zumbusch“.Ferner nennt er: Keller-Reutlingen, Otto Eckmann, Bernhard Pankok, Richard Riemerschmid, Bruno Paul, F. v. Reznicek und Rudolf Wilke (S. 494). Und wenn Hirth, der vor Selbstbewusstsein geradezu strotzende Verleger der Jugend, zugibt, “Keller-Reutlingen und andere waren gemachte Leute, als sie in unsere Reihen eintraten“ (S. 494), also bereits 1896, so ist das kein geringer Beweis für den großen Erfolg des 42-jährigen Keller.

Fritz von Ostini schreibt 1901 über “Die Künstler der Münchener Jugend“ (V&K 1901/02, 1, S. 609ff). Obwohl er sich beklagt, daß er aus Platzgründen “nicht einmal (…) alle wesentlichen Mitarbeiter“ nennen könne, sagt er: “Noch eine Reihe von Landschaftern wären übrigens aufzuzählen, die bald schwarz, bald farbig, bald zeichnerisch, bald malerisch ihren Teil am Bilderschmuck der Jugend leistete, Richard Riemerschmid, Keller-Reutlingen“ u.a. (S. 624).

Sogar ein Kinderbuch des Verlags illustrierte Keller, die “Märchen ohne Worte“ von 1900.

Eine Besonderheit des Verlags stellte die Herausgabe farbiger Kunstblätter dar. Auf  mindestens 28 dieser Kunstblätter waren die Gemälde Kellers abgebildet. Zudem wurden vom selben Verlag .“Jugend-Marken“ in Briefmarkengröße zum Aufkleben herausgegeben, auf denen als erste Marke unter Serie 1, No 1 das Gemälde “Dorfstraße“ von Keller abgebildet war (s. Kat. d. farb. Kunstblätter der Zeitschrift Jugend, München 1916).

 

IX Betzinger Malschule

 

Keller gehörte zu der von Wilhelm Emil Robert Heck (1831-1889) um 1855 ins Leben gerufenen und alsbald populären sog. Betzinger Malschule (s. Karl Keim). Betzingen ist seit 1907 ein Stadtteil von Reutlingen.

Zahlreiche bekannte Maler, darunter Anton Braith, Albert Kappis, Theodor Schüz, Christian Mali, Benjamin Vautier und eben auch Keller entdeckten die Reize des Betzinger Dorflebens, das von manchen als die erfreulichste Erscheinung der ganzen Gegend gerühmt wurde, hervorzuheben vor allem seine pittoresken Trachten. Der Reutlinger Generalanzeiger vom 4.6.1961 nennt Kellers Aquarell eines Betzinger Bauernhauses “das wohl beste Bild, das je von einem der schönen Betzinger Häuser gezeichnet wurde“.

 

X Münchener Secession

 

Am 11.4.1892 spaltete sich eine stattliche Gruppe von Künstlern von der Münchener Künstlergenossenschaft, der wohl auch Keller angehört hat, ab,  um einer eigenen, fortschrittlicheren Kunstentwicklung eine Plattform zu bieten.

G. Keller nennt seinen Bruder einen “Vorläufer und Wegbereiter der Sezession“ (S. 133). Richtig ist, daß er am 3.5.1892 eines der Gründungsmitglieder des “Vereins bildender Künstler München (Secession) e.V“. war. Ihrem Vorstand gehörte er seit dem 15.4.1893 zunächst als 2. Schriftführer an, seit 1897 war er 1. Schriftführer der Aufnahmejury. Sein Name findet sich zum vorletzten Mal im Protokoll der Secession vom 23.2.1898. Ob sein Rückzug aus den Aktivitäten des Vereins damit zusammenhängt, dass die Secessionsgalerie (zumindest nach ihrem Inventar von 1940) kein einziges Werk Kellers erwarb, während Albert von Keller mit 10 Werken vertreten war? Keller wird in den Secessionsakten zum letzten Mal erwähnt am 23.4.1920 anlässlich seines Todes: “ Die Versammlung ehrt ihr Andenken durch Erheben von den Sitzen. Hierauf Übergang zur Tagesordnung.“ (S. 97). Die Secession wurde 1938 aufgelöst und 1946 neugegründet.

Verleger Georg Hirth erinnert sich an die Anfänge der Sezessionsbewegung: Solange es noch Sezessionen, also Abspaltungen von der herrschenden Kunstrichtung gebe, so lange “können wir ziemlich sicher auf Fortschritt rechnen“ (S. 490). Was speziell die Münchener Secession betrifft, sagt er: “Im Vordergrunde standen damals die Namen Fritz v. Uhde, Franz Stuck, Bruno Piglhein, Frhr. v. Habermann, Albert von Keller, Gotthard Kühl, Heinrich Zügel, Arthur Langhammer, Paul Höcker, Ludwig Herterich, Wilh. Volz, Adolf Hoelzel, Jul. Exter, Rob. Pötzelberger, Otto Eckmann, Graf Leopold Kalckreuth, Jos. Floßmann, Th. Th. Heine, Keller-Reutlingen, Ernst Zimmermann, Peter Behrens, Wilhelm Trübner, Victor Weishaupt, Bernhard Buttersack, Hierl-Deronco, Benno Becker. Leo Samberger, Ad. Hengeler, Christian Landenberger, Otto Pilz, Louis Corinth u.a. Aber der eigentliche Sorgenbrecher und Arbeiter war der treffliche Ludwig Dill.“ (S. 409f).

Im November 1893 charakterisiert Otto Julius Bierbaum die Secession so: Auf allen Gebieten herrsche ein Trieb weg vom Alten, besonders in der bildenden Kunst. Die bedeutendste dieser sich vom Alten abspaltenden Gruppen sei der Verein bildender Künstler in München. In München war man sich mit der alten Künstlergenossenschaft vor allem uneins über die Ausstellungsmodalitäten:“Die späteren Secessionisten hatten, kurz gesagt, Eliteausstellungen rein künstlerischen Karakters ohne Rücksicht auf die Nationalität gewollt, ohne Rücksicht auf die Masse der Münchener Künstler, einzig in Rücksicht auf rein künstlerische Qualität“ (S. 5). So kam es zur Abspaltung (lat. secessio): “Was diese Künstler eint, ist nicht irgend ein –ismus; kein Schlagwort führen sie als Devise, und kein Dogma hält sie zusammen, es sei denn das vom Grundrechte des Künstlers, das am kürzesten mit dem Worte Individualismus ausgedrückt wird.“ (S. 3f.).

1893 publizierte die Secession eine Mappe mit 23 Heliogravuren. Sie gab “eine Anzahl hervorragender Werke von der Hand secessionistischer Künstler wieder. (…) Künftige Zeiten werden es nicht begreifen, was denn an diesen Werken der Mehrheit unserer Zeitgenossen so unbegreiflich und bekämpfenswert erschienen ist.“ (Bierbaum S. 7).

Die Mitglieschaft Kellers beweist, dass er sich selbst als Avantgardist verstand. Außerdem ist Keller als Angehöriger der Münchener Sezession in seiner Landschaftsmalerei von der französischen Schule von Barbizon beeinflußt. Beide Schulen mieden das Malen im Atelier und begaben sich lieber in der Natur vor das Motiv.

Die Secessionisten waren zu ihrer Zeit oft Gegenstand des Spottes, u.a. wegen ihres unorthodoxen Farbempfindens, das auch Keller hatte. So nehmen z.B. die satirischen Meggendorfer Blätter von 1901 zwei Secessionskünstler aufs Korn. Der eine hält sich vor Übelkeit den Kopf mit den Worten: “Es wird mir plötzlich ganz grasblond vor den Augen!“, worauf der andere sagt: “Was fehlt Dir? Du siehst auch so meergelb aus!“ (S. 33).

 

XI Fürstenfeldbrucker Malerkolonie

 

Bei ihr handelt es sich eigentlich nicht um eine Künstlerkolonie, sondern um eine lokal konzentrierte Gemeinschaft ansässiger Künstler, wobei Keller auch hier zu denen der ersten Stunde gehörte. Sie hatten keinen gemeinsamen Stil. “Gleichwohl bildete sich im Werk von einigen Künstlern ein Brucker Dialekt heraus, der vielleicht am deutlichsten in den Bildern von Paul Wilhelm Keller-Reutlingen – er fing wie kein anderer das Licht des Amperlandes in seinen Gemälden ein – erlebbar wird.“ (Kleinknecht S. 454).

Bekannte Kellers waren die Brucker Maler Ernst Crasser (als direkter Nachbar), Alfons Schneider und Max Landschreiber, ferner der Brucker Gerber Max Irlbeck, der Architekt Adolf Voll und der Baumeister Kaspar Hofmeister.

 

XII Dachauer Malerkolonie

 

Im Rückblick auf seine eigene Zeit um 1895 als Rechtsanwalt in Dachau schreibt Bayerns Nationaldichter Ludwig Thoma in seinen Erinnerungen (München 1919, S. 197): “In Dachau waren damals zahlreiche Maler, darunter Dill, Hölzel, Langhammer, Keller-Reutlingen, Flad, Weißgerber, Klimsch u.a.“. Thoma zählt ihn also zur weltberühmten Dachauer Malerkolonie, die etwa 3000 Maler und Malerinnen umfasste. Sie fühlten sich angezogen von der “malerischen und farbintensiven Landschaft“ (Ebertshäuser S. 156).

Aber Kellers Beziehungen zu dieser Gruppierung sind weitgehend unerforscht. In der Stadt war er nicht als niedergelassen gemeldet, hat aber ein Bild gemalt “Blick aus meinem Atelier“, das als Ansicht des Pollnhofs im Dachauer Ortsteil Augustenfeld erkannt wurde.

 

XIII Münchener Allotria

 

Die Künstlergesellschaft Allotria wurde 1873 von Franz von Lenbach und Lorenz Gedon in München gegründet. Beweggrund war der Austritt vieler Künstler aus der Münchner Künstlergenossenschaft. 

Sie verstand sich als Vereinigung progressiver Künstler und Gegenpol zur konservativen Münchner Künstlergenossenschaft. Ihr Vorstand war Franz von Lenbach, Mitglieder waren u.a. Otto Frölicher, Friedr. August von Kaulbach, Hans Makart, Franz Stuck, Lovis Corinth, Wilhelm Busch. 1892 gründete sich aus der Allotria heraus die Münchner Sezession.

Dass Keller deren Mitglied war, geht aus “Kunstchronik“ XXII, Sp. 515 hervor, wo dem Rezensenten bei einer Abschiedsausstellung aus Anlass der Schließung des langjährigen Ausstellungsraums der Vereinigung “treffliche Landschaften“ des Malers auffielen.