Wirkung des Malers Paul Wilhelm Keller-Reutlingen

I  In Reutlingen

Zu Paul Wilhelm trug jemand wohl nicht ohne Stolz später im Kirchenregister ein:“bekannter Landschaftsmaler“. Und anlässlich seines 150. Geburtstags am 4.2.2004 wurde Keller vom Reutlinger Generalanzeiger gar als“Malerfürst“ bezeichnet. Doch die Wirkung des Malers in dessen Geburtsstadt beschreibt der Dichter Ludwig Finckh (1876-1964), der ein entfernter Vetter Kellers ist, so:“In Reutlingen anerkannt war er nie. Und darum kam er auch nur selten heim. Finckh wohnte seit 1888 in der Gartenstraße gegenüber den Kellers und berichtet immer wieder lediglich die eine Anekdote, daß Paul Willi bei Finckhs an Silvester einen Kanonenschlag auf dem Gartentor ablegte. An mehr erinnert er sich wohl nicht, der Kontakt zu dem 22 Jahre älteren Keller wird nicht sehr eng gewesen sein.

Daß Keller Schwaben verlassen hat, war nicht ungewöhnlich. So schreibt Friederich Pecht:“Die talentvolleren Schwaben wenden (…) ihrer Residenz gewöhnlich den Rücken und wandern alle nach München aus, wo wir ihnen in langer Reihe unter den Besten begegnen.“ (Zitat nach Weltkunst 19/1995, S. 2522). Seit Ende der 1860er Jahre war nicht mehr Düsseldorf, sondern München die erste Stadt in der Kunst (s. Bierbaum S. 6).

In Otto Fischers Standardwerk“Die schwäbische Malerei des 19. Jahrhunderts“ fehlt daher Keller und dies, obwohl Fischer ebenfalls aus Reutlingen stammt und als Direktor der Staatsgalerie Stuttgart sich professionell mit schwäbischer Malerei beschäftigte. Und leider hält die Münchener Kunstszene Keller aufgrund seines Anhängsels“Reutlingen“ noch heute irgendwie nicht für einen Angehörigen der Münchner Schule, sondern für einen Schwaben.

So ist er irgendwie zwischen die Stühle geraten.

 

II  In der Literatur

 

Schon 1887 fiel dem Rezensenten der“Kunstchronik“ eine Sommerlandschaft Kellers“durch eine wunderbare Feinfühligheit auf“ (XXII, Sp. 549). Als Kellers Vater 1890 starb, stellt der Bruder des Malers fest:“Den Ruhmn Willis durfte der Vater nicht mehr voll miterleben, aber eine Freude machte ihm auch dessen schon frühe Glanzleistung und Höherdringen“ (F. Keller 1936, S. 112).

Und bald darauf, 1893, findet Alfred G. Meyer in derselben Zeitschrift bei der Betrachtung eines“Bayrischen Dörfchens bei Nacht“ von Keller,“alle diese Bilder, die auf jedweder Eisenbahnfahrt vorüberfliegen, werden unter seinem Pinsel zu gemalten Gedichten und fesseln, je länger man sie betrachtet“ (N.F.V, Sp.363).

Und schließlich sieht das Blatt 1895 gar durch Keller und weitere, bis heute anerkannte Größen des Kunstmarkts, eine Salzburger Ausstellung aufgewertet:“Andere Namen, wie Keller-Reutlingen, Josef Willroider, Jos. Villegas (Rom), Robert Poetzelberger möchte ich hervorheben, um zu zeigen, welche trefflichen Resultate die Bemühungen des Salzburger Vereins-Komités vom Künstlerhause zu verzeichnen haben“ (Sp. 504).

1921 wurde Keller in das Werk von Hermann Uhde-Bernays, “Münchner Landschafter im neunzehnten Jahrhundert“, München, S. 149, aufgenommen. Uhde-Bernays (geb. 1874) war freier Kunsthistoriker und Rezensent von Rang in München. In der populären, großbürgerlichen Zeitschrift Velhagen Klasings Monatshefte wurden schon zu Lebzeiten des Malers etwa ein Dutzend Werke von ihm wiedergegeben (s. Abb.-Index T.L.Heck für Velhagen Klasings Monatshefte von 1886-1953, Tübingen 1997).

Auch Kellers Werk konnte sich einer nationalistischen Vereinnahmung nicht entziehen, die sich schon 1909 abzeichnete, als Prof. Dr. Franz Bock, Kenner vor allem mittelalterlicher und sakraler Kunst, in einem Verriss eines“Hausbuchs deutscher Kunst“ schrieb:“Es dürften ferner nicht fehlen: Boehle, Kolb, Dettmann, Zügel, Skarbina, Kaiser, Erler, L.v.Hofmann, Gerh. Janssen (…), Riemerschmid, Pankok, Weise, Slevogt, Reiniger, Feddersen, Franck, Hartmann, Keller-Reutlingen,  Hübner, Zwintscher, Brandenburg. (…) Alle diese Meister machen in ihren besten Werken die gegewärtige Blüte der Kunst aus, und diese FÜLLE der Talente und Individualitäten ist ganz wesentlich charakteristisch für das deutsche Kunstleben.“ (in: Walhalla, BD. 5, 1909, S. 208). Bock veröffentlichte 1925 in Verfolgung dieses Ansatzes sein Buch“Die nationaldeutsche Kunst“.

Weitere Hinweise auf die Aufnahme Kellers in die damals zeitgenössische Literatur findet sich im Literaturverzeichnis.

 

III  Reproduktionen

 

Reproduktionen der Jugend

1909 veröffentlichte der Verleger der“Jugend“ etwa 3000 Reproduktionen von Kunstwerken, die von 1896 bis 1909 in diesem Blatt erschienen waren. Bis 1915 waren von Kellers Gemälden über 30 Reproduktionen erschienen. Die 10 000 Exemplare des Katalogs waren nach nur fünf Monaten vergriffen, die Neuauflage enthielt 3400 Abbildungen. Von allen Repros verkaufte man bis 1908 200 Millionen, bis zu Kellers Tod 1920 geschätzte 400 Millionen! 

Im Anhang von 1920 zählt der Verleger Hirth Keller-Reutlingen zu den „namhaftesten“ Künstlern, da er wohl überproportional an diesem gigantischen Erfolg beteiligt war. Denn allein von Kellers Bildern dürften statistisch 3 Millionen verkauft worden sein, so daß etwa jede/r dreißigste Deutsche einen Keller-Reutlingen im Besitz gehabt haben dürfte.

 

Postkarten der Jugend

 

In der“Jugend“ von 1910, Nr. 20, S. 468b, findet sich der Hinweis des Verlags, er habe sich auch zur“Herausgabe einer Anzahl Serien Jugend-Postkarten entschlossen, die in hervorragendem Vierfarbendruck Ende Juni 1910 in den Handel kommen werden“. Die Serie drei ist ganz Keller gewidmet. Die Motive waren alle schon zuvor in der Zeitschrift selbst erschienen:                               Im Unterbräu (Dachau) –  Am Waldbach –  Dorfstraße –  Die Amper –  Spätsommer –  Sonnengruß.

Die Postkarten waren“wirkliche kleine Kunstwerke“, die jeweils 10 Pfennige kosteten. Schon Ende Dezember 1910 erschienen nach dem“großen Beifall“ für die zehn ersten Serien noch 20 weitere (Jugend 1911, Nr. 8, S. 184a).

 

Weitere Postkarten

 

Viele von Kellers Werken wurden durch ungefähr 40 Postkartendrucke“äußerst populär“, die z.T. auch aus anderen Verlagen als dem der “Jugend“ stammten. In der für die Plakatkunst äußerst wichtigen Zeitschrift“Das Plakat“ wurden im August 1920 auch künstlerische Postkarten (als eine Art von Miniplakat) besprochen. Keller schneidet dabei im Verhältnis zu anderen Künstlern sehr gut ab:

“Ausgezeichnet sind die Karten mit stimmungsvollen Landschaften aus Fürstenfeld-Bruck bei München von dem unlängst verstorbenen KELLER-REUTLINGEN“, die J. Woderer in Bruck verlegt hatte.

Die Wirkung dieser Karten auf die Verbraucher schein ambivalent gewesen zu sein. So schrieb 1909 ein Hans Schäfer an seinen“lieben Walter“ auf einer Postkarte mit Keller-Motiv:“Ich weiß nicht, ob Du diese Art Karten machst: so stelle ich mir ungefähr das Dörfchen vor, in welchem Du (…) so hochinteressante Stunden verlebt hast“. Und als PS:“Verschone mich, wenn irgend möglich, mit der gesagten Karte.“ 

 

Sozialistischer Realismus

 

Kellers Realismus gefiel selbst in der ehemaligen DDR so sehr, daß dort 1956 (!) die größte Reproduktion eines Keller-Motivs hergestellt wurde, ein 67 x 93 cm großer Lichtdruck“Abendsonne“, von dem gar die Deutsche Bibliothek in Leipzig ein Exemplar aufbewahrt. Die Affinität zwischen Keller und der Malerei des sozialistischen Realismus wird auch durch einen anderen Umstand belegt: 1998 kam Kellers Portrait einer Schnitterin mit Sense (!) in den Handel, das man als Werk des“sozialistischen Frührealismus“ bezeichnen könnte, in dem die Arbeit, wie bei Millet, quasi religiös verklärt wird.

 

Sammelteller

 

Wie sehr Kellers Bilder noch immer ansprechen, zeigt die Wirkung eines seiner Idyllen, das in der WELTKUNST 10/1993, auf S. 1197 abgebildet wurde. Das idyllische Bild fiel bei dem weltgrößten Hersteller von Sammeltellern auf, der Firma Bradford, die sogleich eine Delegation sandte, um die Möglichkeiten zu untersuchen, mit diesem Motiv einen Sammelteller zu produzieren.

 

IV Private Sammlungen

 

Der Großteil der Bilder Keller-Reutlingens befindet sich heute in privaten Sammlungen und wird auch heute noch rege über Auktionshäuser gehandelt.

 

V Öffentliche Sammlungen

 

Schon 1896 erwarb der württembergische Staat das“Abendläuten mit heimkehrenden Mädchen“ auf der Internationalen Kunstausstellung in Stuttgart für das Königliche Museum der Bildenden Künste, die heutige Staatsgalerie. Heute allerdings wohl nicht mehr im Bestand (s. u.). 

In das Städelsche Institut in Frankfur/M. gelangte kurz darauf, 1899, als Geschenk von Leopold Sonnemann die  „Mühle in Bruck“ von 1898. Sonnemanns Keller-Reutlingen trug zwar die Nr. 1 des Inventars, wurde aber 1919 verkauft. Sonnemann (1831-1909) gründete 1899 den Städelschen Museumsverein, dessen erster Ankauf Max Liebermanns“Freistunde im Amsterdamer Waisenhaus“ war. Sonnemann war der Gründer der Frankfurter (Allgemeinen) Zeitung.

Kellers Bilder findet man noch in einigen weiteren bedeutenden öffentlichen Sammlungen: In der Neuen Pinakothek in München, in der Kunsthalle Kiel („Einsames Haus“), ferner in Leipzig (Frühlingslandschaft) und Dresden. Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden besitzen drei Werke Kellers:“Abenddämmerung“ erwarb sie 1897 direkt vom Künstler auf der Internationalen Kunstausstellung in Dresden (Kat. Nr. 296),“Schafe in einer Waldlichtung“, befindet sich im Schloß Pillnitz,“Gänseliesl mit Wäsche hinterm Haus“.Sowohl die Waldlichtung als auch die Gänseliesl wurden erst 1950 von der Staatlichen Kunstsammlung erworben, nachdem die Bilder 1945-48 den unbekannten Vorbesitzern im Zuge der Bodenreform durch Enteignung weggenommen worden waren. 1962 nahm die Dresdener Gemäldegalerie Neuer Meister diese Werke in ihren Bestand auf. Diesem Umstand ist es zu verdanken, daß Keller-Reutlingen in der größten Kunstfotothek der Welt vertreten ist, dem Marburger Index (s.  Literaturverzeichnis).

Ein Werk Kellers kam durch Stiftung des Fabrikanten Sattelmayer an die Stadt Bad Urach (Ölgemälde“Schwäbische Dorfstraße mit Gänseliesl“), ein Werk besitzen die Oberschwäbischen Elektrizitätswerke (als Dauerleihgabe im Landratsamt Reutlingen). Eine Schenkung Conrad Fischers an das Schlesische Museum der Bildenden Künste in Breslau ist verschollen (Aquarell von 1895: Marktbreit im Mondlicht).

Mehrere Gemälde befinden sich im Besitz der Sparkasse Fürstenfeldbruck und Reutlingen, der Städtischen Galerie in Albstadt , dem Städtischen Kunstmuseum Spendhaus in Reutlingen, dem Heimatmuseum und Stadtarchiv Reutlingen (über 20 Werke).

Teilweise sind Kellers Gemälde nicht mehr in staatlichen Sammlungen, sei es wegen Kriegsverlusten (das Bild“Abendläuten“soll 1944 als Leihgabe beim Evangelischen Oberkirchenrat einem Bombenangriff zum Opfer gefallen sein), sei es wegen Abhandenkommens (die Städt. Galerie im Lenbachhaus lieh 1953 das 1928 erworbene Bild“Frühling“ an ein städtisches Krankenhaus aus; 1993 wurde es als “abgängig bemerkt.).

 

VI Wirkungen in der Gegenwart

 

Edward Hopper (1882-1967) 

Zwischen Hopper und Keller bestehen auffällige Parallelen: Beide waren Realisten, ihre Themen und Stile änderten sich im Lauf vieler Jahrzehnte nur wenig, beide sind Vertreter einer Gedankenmalerei, der jeder sozialkritische Ansatz fehlt. Beide sind Maler der Beleuchtung, Kellers Werke zeichnen sich ja bekanntermaßen durch gesteigerte Beleuchtungseffekte aus, Hopper soll sogar ein Modell aus Karton gebaut haben, um die Effekte von Licht und Schatten der einfallenden Sonnenstrahlen zu studieren (s. Kranzfelder S. 6). Aus den Werken beider Maler spricht eine Religiosität, die Keller lebenslang durchhält, die bei Hopper aber später einer profanen Realität weicht. Insofern vollzieht sich im Schaffen Hoppers der Bruch zwischen der Malerei des 19. Jahrhunderts und der Moderne. Beide Maler beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Natur und Zivilisation. Die Nähe beider Künstler  zur Fotografie wurde festgestellt (Zoege von Manteuffel S. 11, wo Keller hierdurch ein sehr zukunftsträchtiger Ansatz bescheinigt wird, und Kranzfelder S. 10). Beide erleben ihre Umwelt magisch. Beide streben in perfektionistischer Technik genaueste Übertragung intimster Natureindrücke an, und dies in einer Haltung, die dem rein Dekorativen entgegentritt. Hopper fühlt, daß“weiterer Fortschrittt bei der getreuen Abbildung nicht mehr möglich ist“ (Kranzfelder S. 14), und sie war ja wohl schon bei Keller nicht mehr möglich. Hopper hofft, die Malerei der Zukunft werde in der Lage sein,“die Überraschung und die Zufälle der Natur wieder zu erfassen und ihre Stimmungen intimer und mitfühlender zu studieren, zusammen mit neuerlichem Staunen und mit Bescheidenheit bei denen, die zu solch elementaren Haltungen noch fähig sind“ (Kranzfelder S. 15), was ziemlich genau dem Programm Kellers entsprechen dürfte. Beide interessieren sich für“das weite Feld der Erfahrung und Empfindung“(Kranzfelder S. 15). Bestimmte Gegenstände werden deshalb vorgezogen, weil sie die besten Mittler für eine Synthese innerer Erfahrung sind.

“Große Kunst ist der äußere Ausdruck eines inneren Lebens im Künstler, dieses innere Leben führt zu seiner persönlichen Weltsicht“ (Hopper), ein Motto, das genausogut von Keller stammen könnte.Auch die Pittura metafisica eines Giorgio de Chirico ähnelt manchmal Kellers Bild “Einsames Haus“, so z.b. in Chiricos Gemälde“Geheimnis und Schwermut einer Straße“ von 1914, das auch von einem unheimlichen Dialog zwischen Fassaden und Schatten beherrscht wird.

Im Vergleich der beiden Maler, Keller und Hopper, wäre eine Anerkennung und Neubewertung der Werke Kellers gerechtfertigt.

Hat Hopper Kellers Werke bei den Vanderbilts kennengelernt, die lt. mündlicher Mitteilung mindestens ein Werk Keller-Reutlingens besaßen?  

Hat Hopper 1899/1900 beim Besuch einer Illustratorenschule oder bei seinem Besuch in Berlin 1907 Kellers Werke kennengelernt? Kannte Hopper Kellers Bild “Einsames Haus“ aus dem Jahr 1912 von Reproduktionen?Jedenfalls hat Keller aber hier eine epochemachende Sichtweise vorweggenommen, was seinen künstlerischen Rang auf alle Fälle belegen dürfte.

 

Franz Radziwill (1895-1983)

 

Einige der Gemälde Franz Radziwills erinnern an Keller, besonders durch ihre übersteigerten Beleuchtungen, wenngleich die Gemälde Radziwills wesentlich expressionistischer und dadurch unheimlicher und dramatischer wirken.

Der Biograph Radziwills sagt über dessen Werk:“Wirklichkeit wird geschaut und interpretiert als Situation des Übergangs, als Dualismus von Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, von Dasein und Vergänglichkeit, von angehaltener Zeit und dramatischem Ereignis. Das Wirkliche in Radziwills Bildern ist durch Überdeutlichkeit derart gesteigert, daß ein Überwirkliches dahinter ahnbar wird. Die Wirklichkeit gerät Radziwill zum Mysterium, zu einem unerschöpflichen Wunder für ihn unergründbarer Beziehungen und Gegensätze zwischen Mensch, Natur, Zivilisation, Universum und Gott. Dieser Dualismus bestimmt auch die bildnerische Methode des Kontrastes, in den motivischen Konfrontationen (Technik-Mensch-Natur), im Nah und Fern, Groß und Klein der Bildgegenstände, im Dissonanten der bis zur Buntheit gehenden Farbigkeit und in der exakt gefügten, klar überschaubaren Komposition, die beunruhigende Motivverschachtelungen und gegenläufige Sehdistanzen und Perspektiven beinhaltet. Die kläubelnde Akribie im Detail, die scharfe Kontur und der anstrichhaft flächige Farbkontrast isoliert die Objekte in ihrem einsamen, verrätselten Dasein“ (R. März, zit nach Auktionskatalog Hauswedell Nolte, Hamburg, Mai 2000, Nr. 1807).

Michael Lassmann spricht – noch prägnanter – bei Radziwill von einem“Zwielicht der Entfremdung“ (in: Antiquitätenzeitung 1, 2001, S. 38), das bereits bei Keller-Reutlingen zu dämmern beginnt.

 

Weitere

 

Bei Alfons Walde (1891-1958) erkennt man ebenfalls das intensive Licht-Schatten-Spiel bei Einsatz stark überzeichneter Farben, was stark an Keller erinnert.

Auch bei modernen Malern wie z.B. Michael Sichelschmidt (geb. 1954) finden sich Anklänge an die Malweise Kellers. 

 

VII Kopisten, Fälscher, Fehlzuschreibungen

 

Von dem fast gleichaltrigen, in Frankfurt/O. geborenen und in München gestorbenen Geflügelmaler Alfred Schönian (1856-1936) gibt es mindestens ein Bild, auf dem im Hintergrund eindeutig ein Keller-Motiv kopiert ist:: Die zwei typisch im rechten Winkel zueinander stehenden Häuser mitsamt Wäscheleine und Holzzaun.

Auch von dem Maler Willem Hoy gibt es mehrere Gemälde mit ähnlichen Motiven, auf Postkarten des DEGI-Verlags reproduziert, die ohne Zweifel direkt auf das beliebte Motiv Kellers“Idyll hinterm Haus“zurückgehen. 

Schon wenige Monate nach Kellers Tod hat die Witwe mit der Verwertung des Nachlasses begonnen. Dabei ging sie professionell vor. Sie wusste, daß das Echtheitsproblem im Vordergrund stehen würde. Sie ließ daher einen Signaturstempel und einen Nachlaßstempel anfertigen, mit dem Werke aus dem Nachlaß des Künstlers versehen wurden:

“ P.W.Keller-Reutlingen München. Ausgewählter Nachlass. Albertine Keller-Reutlingen.“  (s. Kapitel “Signaturbeispiele“).

Ferner bestätigte die Witwe auf Wunsch eigenhändig die Echtheit.

Ob alle unsignierten Werke in seinem Besitz auch tatsächlich von ihm selber gemalt wurden, oder ob sich Werke anderer Künstler in seinem Besitz befanden, die wissentlich oder unwissentlich gestempelt wurden, oder ob die Werke in seinem Besitz noch nicht zum Verkauf angeboten werden konnten, da noch nicht ausgearbeitet oder von ihm nicht als qualitätvoll eingestuft wurden, kann nicht immer exakt beurteilt werden. Auch was nach Albertines Tod 1926 mit diesen Stempeln noch alles gestempelt wurde oder wieviele dieser Stempel noch durch Dritte nachgefertigt wurden entzieht sich unserer Kenntnis und bleibt reine Spekulation.

Nur höchste Qualität in der künstlerischen Ausführung sollte eine Zuschreibung dieser gestempelten Werke an Keller-Reutlingen erlauben!

 

VIII Posthume Würdigung

 

Bis zur Erstellung dieses Werks im Jahr 2023 ist noch keine Biographie oder ein Werkverzeichnis über Keller-Reutlingen erstellt worden.

Ludwig Finck schreibt 1925:“Es ist zu bedauern, dass noch niemals eine übersichtliche Ausstellung seiner Werke zustande kam , weder in Reutlingen noch in Stuttgart“. Noch Jahrzehnte später beschwerte sich Finck brieflich an U. Knapp:“ Es hat mich auch immer gequält, daß die Reutlinger sich so wenig um unseren Vetter Willi Keller kümmerten.“ Doch es sei“noch in 30 Jahren Zeit , ihn auszugraben“.

Es wurden fast genau 30 Jahre, denn anlässlich des 9. Familientags der Keller aus Schwaben, am 25.5.1958, soll die Stadt Reutlingen im Heimatmuseum eine kleine Ausstellung von Werken Kellers durchgeführt haben, wie die Reutlinger Nachrichten vom 31.5.1958 und das Schwäbische Tagblatt meldeten.

Die erste große Einzelausstellung Kellers fand im Dezember 1996 im Spendhaus Reutlingen statt.

Die meisten Werke Kellers befinden sich im Privatbesitz, wobei die meisten Auktionsverkäufe seit 1970 gem. Recherchen einer englischen Datenbank in Stuttgart erfolgten, also noch vor München. Dies obwohl die Kunsthistoriker Keller nicht als schwäbischen, sondern als Münchner Maler sehen und auch anzunehmern wäre, daß aufgrund seiner Wohnsitze in Bayern mehr Gemälde im bayerischen Raum zu fnden seien.

Für die Gemälde Kellers wurden in der Vergangenheit hohe Preise erzielt: So wurde 1942 für ein Gemälde Kellers in Bad Kissingen für 12000 Reichsmark bezahlt, das Kaufkraftäquivalent in Euro wäre heute (2023) ca. 50.000 €. Damals der Wert einer Wohnung. 1983 verzeichnete das Zentralorgan des deutschen Kunsthandels Preise bis 85 000 DM (heute, 2023, ca. 45.000 €) für Werke dieses Malers (Weltkunst 9/1983, S. 1231).

Auch in den USA soll er besonders viele Bewunderer gehabt haben. Wie seine Marktpräsenz in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg verlief, zeigt auch der Weltkunst-Abbildungs-Index von T.L.Heck (s.d.).

Das Oeuvre des Malers wird wegen seiner minutiösen Malweise auf nur etwa 600-800 Ölbilder und nur wenige Aquarelle und Zeichnungen geschätzt. Einige wenige Exlibris hat Keller geschaffen (s. von zur Westen), Holzschnitte oder Radierungen hat Keller wohl nicht ausgeführt. Es dürfte in zwei Weltkriegen von seinem Werk gut ein Drittel vernichtet worden sein: In München beispielsweise blieben im 2. Weltkrieg nach 66 Luftangriffen nur 2,1% aller Häuser unbeschädigt, während 34,5% schwer oder total zerstört wurden. (S. Helmut Koenig, München im Wiederaufbau, ein Querschnitt durch den Wiederaufbau Münchens, München um 1953, S. 25 und 34.f).