Kunstgeschichtliche Betrachtungen des Werks von P.W. Keller-Reutlingen

I Vorbilder

Paul Wilhelm Keller-Reutlingen lebte von 1876-1879 in Italien und hat dort natürlich die italienische Malerei kennen gelernt. Die “Kunstchronik“ sah zumindest sein “Kornfeld“ in diesem Zusammenhang, “auf dem der lichte Schimmer der Luft an den Goldton der Altvenezianer gemahnte“ (N.F. V, 1894, S. 117).

Nach Auskunft seines Bruders hat Keller auch die alten Niederländer studiert, was plausibel erscheint, da er von ihnen die dramatische Lichtregie übernommen haben könnte.

Im Nachlaß seines Vaters befand sich ein Werk von Achenbach (Oswald? Andreas?). Andreas Achenbach hat eine Mühle gemalt, die aufgrund der grauen Gewitterstimmung im Hintergrund und dem sonnenbeschienenen roten Dach sehr an Keller erinnert.

Ein Stillleben mit Disteln und Schmetterlingen erinnert stark an Sibylla Merian.

Wahrscheinlich haben auch seine Lehrer auf Keller gewirkt, so der über 40 Jahre in München lehrende Otto Seitz, dessen Landschaften am feinsten sind, “von tiefem Stimmungsgehalt und starker Leuchtkraft der Farbe. Hier war er ganz original und bedeutend“ (zit. N. VK 1911/1912, Bd. 3, S. 319).

Die Rückkehr ins behütete Land der Kindheit erinnert an Bilder von M. v. Schwind und C. Spitzweg, das Dramatisch-Erhabene, manchmal Unwirkliche, hat Beziehungen zum Werk Arnold Böcklins. Die intensive Farbwahl läßt an Einflüsse von Hans Thoma denken, die Hell-Dunkel-Manier erinnert auf manchen Bildern an Caravaggio.

 

II Farbe

 

Ludwig Finckh beschreibt eindrucksvoll, wie der heute eher als konservativ geltende Keller damals avantgardistisch war: 1895 seien Kellers Bilder “in jeder Ausstellung“ vertreten, und der Maler gelte als“revolutionär“, seine Bilder“galten als unerhört neu und frech. Der Kerl hatte grasgrüne Wiesen und blauen Himmel in der freien Natur zu malen gewagt – plein air! (…). Man erschrak fast vor seiner Kühnheit“!

Kellers Bruder Franz schreibt in seinem Nachruf:“Mit Vorliebe behandelte er die Dämmerung, weil die Farbtöne da am tiefsten und feinsten sind (…). Der künstlerische Gehalt seiner Arbeiten besteht in der Lösung von Farbproblemen, die er sich stellte, z. B. im Stillen Haus violette Schatten auf lichter Wand um späte Abendstunden (…) darzustellen. Ohne Effekthascherei, ohne Mache, ohne Übertreibung gibt diese Malerei die warmen Farben in Kellers Übersetzung wieder, wie sie der Tag, wie sie Dämmerung und Nacht in feiner Stimmung und feinen Tönen uns zeigen.“ Die violetten Schatten auf weißen Wänden sind übrigens Gegenstand eines Briefwechsels zwischen J.W.v.Goethe und G.C.Lichtenberg: Lichtenberg hatte einen Schlüssel gegen eine weiße Wand gehalten“und fand den Schatten blaßlila“. Er fragte Goethe:“Haben Ew.Hochwohlgeboren wohl auch schon die herrlichen lila Schatten gesehen?“ und stellt einen Bezug zu unserer Frage des Magischen Realismus bei Keller her, denn:“Es herrschte in dieser Kammer (…) ein sonderbares, ungewisses, magisches Licht.“ (Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Berlin o.J., S. 213).

Kellers Bilder zeigen vom ersten bis zum letzten Bild eine große Bandbreite.

Eine weitere Erklärungsmöglichkeit der intensiven, atmosphärisch-geheimnisvollen Farbgestaltung könnte in der Verwendung von Brillen mit Farbgläsern liegen, die schon seit Ende des 15. Jahrhunderts bekannt sind. Belege hierzu, ob Keller solche Gläser benutzt hat, gibt es leider keine.

Für Dr. Horst Ludwig, einen führenden Kenner der Münchener Malerei, ist Keller“ein sehr eigenwilliger Maler, der den Umriß und die feste Form in seiner Bildwelt betonte. Gleichzeitig liebte er aber gesteigerte Beleuchtungseffekte und ein leuchtendes Kolorit mit starken Kontrasten“ (S.), Ludwig spricht von einem“bunt zu nennenden Kolorismus“ (S: ). Einer der Gründe für Kellers z. T. extreme Farbigkeit könnte darin liegen, daß sein Vater seit 1860 Bildchen aus Schmetterlingsflügeln zusammensetzte, deren Glanz bekanntermaßen spezielle Farbeffekte bewirkt (F. Keller 1970, S. 11).

 

III Licht

 

Doch während Franz Keller seinen Bruder als Meister der Farbe bezeichnet, betont der bedeutende Kunsthistoriker Richard Muther (Prof. Dr. Muther, 1860-1909, Konservator des Münchener Kupferstichkabinetts und Herausgeber der Monographienreihe“Die Kunst“) schon 1893/94 in seinem Standardwerk über die Malerei des 19. Jahrhunderts – das durch neue Auffassungen und Urteile überraschte und von großer Wirkung war – Kellers Meisterschaft in der Behandlung des Lichts:“Er versteht den Reiz der Flachlandschaft mit ihren subtilen Farbabstufungen und der ganzen Lichtfülle des gewaltigen Himmelsgewölbes meisterhaft wiederzugeben“ (Bd. 3, S. 442).

Und in einem‘Who is Who‘ des geistigen Deutschland von 1898 heißt es von Keller, er zeige“neuerdings nicht minder feine Dämmerungs-und Nachtstimmungen.“

Auch der Ausstellungskatalog“Die Münchner Schule“ sagt:“Seine stillen, idyllischen Landschaften zeichnen sich vielfach durch interessant gesteigerte Beleuchtungseffekte aus“ (S.255). Zu diesen besonderen“Beleuchtungseffekten“ findet sich sich bei Theodor Lessing ein hochinteressantes Zitat:“Im Jahre 1882 flog durch vulkanische Eruption die Südseeinsel Krakatao in die Luft, wobei viele hunderttausend Menschen von der Flutwelle getötet wurden. Eine Riesenwolke feinen Staubes blieb in der Luft, umkreiste mehrmals die Erde und brachte die tiefen, farbigen Dämmerungserscheinungen hervor, die von jener Zeit bis Mitte der neunziger Jahre in der ganzen Welt sichtbar waren. Es ist uns heute klar geworden, daß die Farbenwolken des Krakatao in innigster Beziehung stehen zu den neuen Malerfarben, den bunten Werten, den Neobildern, den Nuancen dieser Jahre.“ (S. 80).

Die magischen Beleuchtungseffekte besonders auf Kellers“Idyllen hinterm Haus“ dürften gerade in diesen Jahren erstmals entstanden sein. Aufgrund seiner Beleuchtungseffekte sollte man Keller einen Meister des Lichts, oder besser einen Magier des Lichts nennen.

Das kalte, scheinbar realistische Schlaglicht Michelangelo Caravaggios, das den Ausdruck in dessen Gemälden in“Chiaroscuro“ (d.h. Hell-Dunkel-) Manier steigert und dramatisiert, verspotteten Kellers Zeitgenossen als“Keller-Licht“.

Kellers Vorliebe für beleuchtete Fenster stammt womöglich von Jugenderinnerungen her. Als Keller sechs Jahre alt war, verfasste der Lehrer Carl Bames ein Gedicht über die Veränderungen in Reutlingen, besonders durch die kurz zuvor eingeführte Gasbeleuchtung. Die Wirkung, die diese Innovation auf den Herrn Oberpräzeptor hatte, könnte der auf den kindlichen Keller entsprechen. Bames schreibt:“Die Straßen alle und die Hallen beleuchtet magisch-hell mit Gas“ (zit. nach Stelzer S. 46)! Die Epoche matten Kerzenlichtes war vorüber, vielleicht hat der jung Keller mit seinen faszinierten Eltern bei Spaziergängen im Dunkeln durch Reutlingen diese Magie eingesogen und ein Leben lang in seinen Bildern reproduziert.

 

IV Magischer Realismus oder Mystischer Realismus ?

 

Nach einer zutreffenden Definition geht es dem Naturalismus um die“äußere Richtigkeit, dem Realismus um die innere Wahrheit“. Mit Naturalismus ist die echte, exakte Wiedergabe der Natur gemeint, während der Realismus die reale, ungeschönte Beschreibung der Natur oder des Alltagslebens beschreibt.

Insofern kann man Keller als Naturalisten bezeichnen, selbst wenn eine der bekanntesten Ausformungen dieser Stilrichtung in Malerei und Literatur sehr sozialkritisch war, ein Zug, den man bei dem idyllischen Reutlinger nicht findet. Malerisch kam es jedoch gerade ihm auf“äußerste Richtigkeit“an.

Er ist aber auch ein Realist, da es ihm zweifellos um innere Wahrheiten geht, selbst wenn man sich auch hier zunächst fragt, was er gemeinsam haben könnte mit Künstlern des Expressionismus, die ja gerade eine innere Wahrheit ausdrücken (exprimere) wollten und deshalb auch als Realisten bezeichnet werden.

Wegen seiner fotographisch genauen Malweise in Verbindung mit diesen“inneren Wahrheiten“ wurde er von Thomas Leon Heck als Vorläufer des“Magischen Realismus“bezeichnet.

Der “Magische Realismus“ stellt einen etwas undeutlich definierten, vielschichtigen Begriff dar, der Elemente der“Neuen Sachlichkeit“, der expressionistischen Malerei bis hin zu“Phantastischer Malerei“subsummiert.

Wäre die Bezeichnung“Mystischer Realismus“ treffender?

Was bei Keller-Reutlingen jedoch besticht ist die Ruhe, die Stille, kombiniert mit der Überzeichnung der Farben und verstärktem Licht-Schatten-Spiel, was eine Verfremdung des dargestellten Geschehens bewirkt. Er erzeugt damit eine unwirkliche, geheimnisvolle, traumähnliche Atmosphäre. Keller-Reutlingen nimmt hier in der Kunstgeschichte eine Sonderstellung ein. Die Kombination von detailgetreuer Malerei, wie bei den Naturalisten, mit “atmosphärischen Elementen der Maltechnik (wie beispielsweise bei Camille Corot, Carl Spitzweg oder Carl Blechen) stellt ein Alleinstellungsmerkmal dar.

Er läßt sich nicht den rein naturalistischen oder realistischen Malern zuordnen, er macht sich nicht dem Impressionismus oder gar dem Expressionismus gemein.

Seine Überzeichnung der Farb-und Lichteffekte findet man später bei Edward Hopper, auf manchen Bildern Franz Radziwills oder bei Alfons Walde, in neuerer Zeit auch bei modernen Künstlern wie Michael Sichelschmidt.

Der Frankfurter Kunstkritiker und Publizist Dieter Hoffmann und auch der Kenner neuschachlicher Malerei und Verfasser des Werkverzeichnisses von Paul Kälberer, Dr. Ludwig Dietz, meinen, PWKR sei gar“als Wegbereiter der Neuen Sachlichkeit zu feiern!“.

Unserer Meinung nach steht die neue Sachlichkeit eher im Gegensatz zur Malerei von PWKR. Die neue Sachlichkeit stellt die ungeschönte, nackte, harte Realität dar, oft in ihrer Kälte und Trostlosigkeit, während Keller genau diese Realität durch Licht-und Farbeffekte verändert, überzeichnet, sodaß sich das Dargestellte oft als unwirklich und fremdartig, manchmal sogar als unheimlich zeigt.

 

V Beziehungen zur Fotografie

 

Der Beziehungen Kellers zur Fotografie ist weiter nachzuspüren.

Vereinzelt kann nämlich bewiesen werden, daß Keller Fotos als Vorlage verwendet hat:

1.      Bei dem Werk “Drei Mädchen in Betzinger Tracht“ (Katalog Keller 1996, S. 58) kopierte er ein Foto des Tübinger Fotografen Paul Sinner in eine bayerische Landschaft. (Sinner lebte 1838-1925. Zu ihm s. Tübinger Blätter 29, 1938, S. 45-49). Der Betzinger Bauer David Dalm brachte sonntags Betzinger Bürger-/innen in ihrer Tracht zu Sinner ins Studio. Keller konnte 1880 dieses Foto noch ohne weiteres kopieren, da Fotos erst 1894 urheberrechtlich geschützt wurden.

2.      Das Stadtarchiv Fürstenfeldbruck besitzt nach eigener Auskunft ein Foto des Flößers, das genau der Kellerschen Auffassung dieses Motivs entspricht, so dass man auch hier davon ausgehen muß, daß der Maler das Foto kopiert, sprich malerisch umgesetzt hat.

Die“Photo-Sicht“ (Zoege von Manteuffel, S. 11), die Bilder wie ein Fotograf hauptsächlich durch Wahl des geeigneten Ausschnitts zu komponieren, sei bei diesem Maler besonders ausgeprägt. “Da diese Photo-Sicht bis heute und wohl noch länger unseres Sehweise bestimmt, ist es wohl erlaubt zu sagen, daß Keller-Reutlingen hier unbewußt einen sehr zukunftsträchtigen Ansatz gefunden hat.“ (a.a.O).

 

VI Impressionismus

 

Immer wieder wird Keller in Zusammenhang mit dem Impressionismus genannt (z.B. Wietek, s. 47, Haack 1925, S. 189. Ludwig meint, mit den Impressionisten verbinde Keller die Spachteltechnik (S.)). Auch die Kunstzeitschrift“Cicerone“ von 1920 schreibt in einem Nachruf auf Keller:“War dieser Künstler auch kein entscheidender Schrittmacher im Sinne des Impressionismus, so doch einer der sympathischsten Erscheinungen im Rahmen der Münchner Landschafterschule, deren Werken alle Merkmale des rein Historischen anhaften.“

Kurz bevor Keller 1873 an die Münchener Akademie ging, hatte 1869 in München die Internationale Kunstausstellung stattgefunden, in der die Malschule von Barbizon präsentiert wurde, die als Vorläufer des Impressionismus gilt. Keller hätte also von Anfang an unter dem Einfluss des Impressionismus stehen können. Doch der bedeutende schwäbische Kunsthistoriker Werner Fleischhauer sagt in seinem Artikel über Keller, in dem maßgeblichen Allgemeinen Lexikon der bildenden Künstler (von Thieme und Becker, Bd. 20, S. 114):

“Trotz seines Interesses an atmosphärischen Erscheinungen bekannte er sich nicht entschieden zum Impressionismus“. Man könnte noch deutlicher sagen, Keller habe wenig von einem Impressionisten.

Egon Friedell sagt über den Impressionisten, er kenne nur ein Gesetz, das des Augenblicks. Nach dieser Definition ist Keller mit Sicherheit kein Impressionist, denn die meisten seiner Bilder wirken statisch. Um einen Vergleich aus der Fotowelt zu verwenden: Die Impressionisten benutzen eine denkbar kurze Blende, Keller eine möglichst lange. Seine Gestalten wirken erstarrt, die Kinder sind in stilles Spiel versunken, die Tiere weiden fast unbewegt. Die Stille springt den Betrachter fast an.

Wie anders hingegen das Großstadtleben in Parks, auf Boulevards und bei Flüssen auf impressionistischen Gemälden Diese lösen die Formen ihrer Gegenstände durch Farbe auf, während Keller ausgesprochen zeichnerisch die Umrisse möglichst präzise wiedergibt. Kellers zeichnerisches, also konturierendes Malen isoliert die Dinge, während die malerische Sehweise der Impressionisten sie verbindet und so ihren Zusammenhang sichtbar macht. Diese exakte Raffinesse mag er von seinem erlernten Beruf des Xylographen beibehalten haben.

Im Nachruf der dem Verleger Hirth gegründeten Münchner Neuesten Nachrichten vom 12.1.1920, verfasst wohl von Wilhelm Hausenstein, hieß es daher bereits schon richtig:“Seine Malerei suchte im Zusammenhang einer zeitgenössischen Bewegung, aber auf unverkennbar persönliche Weise ein ruhiges stilhaftes Element, das zum Naturalismus und auch zum Impressionismus in Gegensatz stand“. Und ferner:“Die Neigung zu intimen, mitunter melancholischen Versonnenheiten, die seinen Arbeiten die besondere Stimmung geben, war der wesentlichste Beitrag seines dichterischen Naturells, das der Sympathie gewiß sein konnte, auch wo es in seiner Bedeutung nicht überschätzt war.“

Auch Hans Geller meinte 1951 zur Recht:“Er liebte stimmungsvolle Beleuchtungen und gab seinen Bildern lebhafte Farben. Er ging aber nicht zu dem in seiner Zeit sich entwickelnden Impressionismus über, sondern blieb in seinen Werken der Zeichnung und sorgfältigen malerischen Durchführung treu.“ (Zit. nach r.m.-.)

 

 

VII Themen

 

Den epochalen Wechsel von biedermeierlicher Ländlichkeit um 1840 zur industrialisierten Verstädterung um 1900 drückte Ferdinand Franzel in seinem Gedicht“Wechsel der Zeiten“ aus. Darin heißt es:

“Einst:

Vor den Häusern, grün beranket,

Blumengärten; und am Abend,

Wenn vom nahen Kirchturm summend

Feierabendglocken klangen.

Kam der Hausherr in die Laube,

Setzt in Brand sein Tabakspfeifchen,

Nahm das jüngste seiner Kinder

Auf das Knie und neckte lächelnd

Dann den kleinen Strampelpeter.

Auf der wohl gepflegten Straße

Zogen singend Wanderburschen,

Grüße tauschend mit den Schönen,

Die am Brunnen Wasser schöpften

Oder zwischen Blumen aus den

Kleinen Erkersfenstern lugten.

 

Jetzt:

Vier Stock hohe Zinskasernen

Schlöte lärmender Fabriken,

Straßenbahnen, Radler, Droschken,

Schutzmannschaft an allen Ecken;

Wandersmann kommt aus der Kneipe,

Gröhlt ein Lied und eifrig packen

Ihn zwei wuchtge Schutzmannshände.

Möbelwagen knarren über

Holperiges StraßenPflaster,

Und die Schönen tauschen Grüße

Aus den eleganten Kutschen

Mit den Kavalieren, die in

Schnabeligen Lackstiefletten

Auf dem Asphaltsteige wandeln

Und sich näselnd “Tschau“ begrüßen.“ (in: Meggendorfer Blätter 1901, S. 126).

Dies ist auch Kellers Hauptthema. Er bearbeitet es, und darin ist er ein typischer Vertreter der Fin de siècle-Malerei, vor allem durch eine -eskapistische- Rückkehr aufs Land.

In Kellers Werken sind z.T. magische Inhalte spürbar wie Geborgensein in der Kindheit im Gegensatz zur Bedrohung durch Umweltzerstörung. Das Paradigma Umweltschutz wurde zu Kellers Zeit entdeckt. So sind seit 1853, also ein Jahr vor der Geburt des Malers,“Rauchschäden“ durch Schwefeldioxid bekannt.

Die heiteren Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande (ein Zitat aus der 6. Symphonie von L.v. Beethoven, und der Titel einer Ausstellung des Württembergischen Landesmuseums von 1983), die um 1920 schon verloren gegeben waren, versuchte Keller noch zu bewahren. Kann man in seinen Bildern spüren, daß die Idylle bedroht ist?

 

VIII Landschaft

 

In Keller sah schon die zeitgenössische Kritik zu Recht in erster Linie den Landschaftsmaler, denn Portraits, Genreszenen und anderes stehen im Hintergrund.

Der spätere Rottenburger Bischof Paul Keppler zum Beispiel machte sich 1895“Gedanken über die moderne Malerei“. Über Kepplers Rang als Kunstkritiker s. Univ. Prof. Sauer, Freiburg, Bischof von Keppler und die Kunst, in: J. Baumgärtner (Hrsg.), (Festschrift) Dr. Paul Wilhelm von Keppler. Fünfundzwanzig Jahre Bischof,. Fünfzig Jahre Priester, (Stuttgart 1925, S. 55ff).

Zunächst stellte er eine“unheimliche“Masse und Mischung von Stilen fest. Malerei sei nicht Nachbildung, sondern“Umformung“, sie solle den Schein der Wirklichkeit erwecken. Die moderne Malerei entfalte ihr bestes Können in der Landschaftsmalerei, (…). Aber nicht“Schöngegendmalerei“ sei ihr Programm, sondern das Unscheinbare, die“latente Poesie“ z.B.“der Flachlandschaften; (…) der von Sonnenstrahlen durchirrten und durchflirrten Bäume, (…) des webenden Zwielichtes, der dunstigen Gewitteratmosphäre. (…) Die Parole heißt: (…) Stimmung ist überall“.

Man könnte meinen, er habe Kellers Werk vor Augen, und in der Tat fährt Keppler fort:“Darin hat nun die moderne Malerei wirklich Großes, Bleibendes, Erfreuliches geleistet. Mit Genuß und mit dankbarer Anerkennung wirklicher Fortschritte betrachtet man (…) die Dachauer Bilder von Wilhem Keller-Reutlingen“.   Daneben werden lobend erwähnt Schönleber, L. Dill, Zügel u.a., entsetzt ist der Kritiker z.B. über Eckenfelder.

Besonders gerne malte Keller Flachlandschaften, wo er die Weite und das Himmelsgewölbe betonen konnte und Alblandschaften. Auf die besondere Wirkung des Abendlichts wurde bereits hingewiesen.

Anton Springer behandelt die damals moderne Landschaftsmalerei von 1870-1900, in der sich verschiedene Strömungen träfen, vor allem in der Behandlung des Lichts:“Zugleich kehrten die Maler von der hellen Mittagssonne auch wieder zu der sanften Beleuchtung des Abends zurück, wie P.W. Keller-Reutlingen (geb. 1854), der die geheinmisvollen Stunden der Dämmerung“ für seine Bilder wählte.

Heilmeyer sagt bei einer Ausstellungsbesprechung über die verschiedenen Landschafter:“Eine weitere Gruppe möchte man die Lyriker unter den Landschaftsmalern nennen. Auch sie feiern zumeist den Abend, die unbestimmten weichen Töne und das Licht der Dämmerung, das um Busch und Wald geheimnissvolle (!) Schatten webt, über Wassern wie zarte Schleier schwebt und über alles eine sanfte elegische Stimmung breitet“ (S. 197). Dann erwähnt er Kellers Bild mit Fluss unter Weiden am Abend.

Eine Landschaft Kellers mit der Emmeringer Eiche wird von Velhagen Klasing hymnisch gepriesen: Sie“gehörte zu den schönsten Werken, mit denen die Münchener Sezession prunken konnte“ (1905/06, S. 128).

 

IX Waldinneres

 

Treffender als Mark Twain kann man die Waldbilder Kellers kaum beschreiben. Im Jahre 1878 beschrieb dieser die Atmosphäre des Schwarzwaldes:

“Die Baumstämme sind stark und geradegewachsen, und an vielen Stellen ist der Boden meilenweit unter einem dichten Moospolster von leuchtendgrüner Farbe verborgen, dessen Oberfläche keine welken oder rissigen Stellen aufweist und dessen makellose Sauberkeit kein herabfallendes Ästchen oder Blatt befleckt.

Das satte Dämmerlicht einer Kathedrale durchdringt die Säulengänge; die vereinzelten Sonnenflecke, die hier auf einen Stamm und dort auf einen Ast treffen, treten deshalb stark hervor, und wenn sie auf das Moos treffen, so scheint es beinahe zu brennen. Aber die sonderbarste und zauberhafteste Wirkung bringt das zerstreute Licht der tiefstehenden Nachmittagssonne hervor; da vermag kein einzelner Strahl in die Tiefe zu dringen, doch das diffuse Licht nimmt die Farbe von Moos und Laubwerk an und durchflutet den Wald wie ein schwacher, grüngetönter Dunst, das Bühnenfeuer des Feenreiches. Der Hauch des Geheinmisvollen und des Übernatürlichen, der zu allen Zeiten im Walde spukt, wird durch dieses unirdische Glühen noch verstärkt.“

 

X Idyll hinterm Haus

 

Keller thematisiert in diesem Motiv die Eingebundenheit des Individuums in eine ländlich-sozial Ordnung, das kleine Glück im Winkel, das Sich-Verlieren im kindlichen Spiel, den Wunsch des Betrachters zur Rückkehr in die warme, wohlige Welt der Kindheit, abseits vom Lärm der großen Welt. Oder irrt der Betrachter? Täuscht uns Keller-Reutlingen? Durch den oft fast grellen Lichteinfall mit gespenstischem Schattenwurf der Bäume an der Häuserwand  wird die Szenerie in ein unwirkliches Licht getaucht und erzeugt beim Betrachter, trotz der dargestellten harmonischen Szenerie, ein Gefühl von Unheimlichkeit. Ahnt Keller das Verschwinden einer alten Zeit, das Ende einer romantischen Epoche?

Saint-Exupéry könnte ein Bild Kellers kommentieren, wenn er schreibt:“So habe ich lange den Sinn des Friedens bedacht. Er kommt nur durch die Kinder, die geboren werden, die geborgene Ernte, das endlich geordnete Haus. Er kommt von der Ewigkeit, in die die vollendeten Dinge eingehen. Friede der vollen Scheuern, der schlafenden Schafe, des gefalteten Linnens, Friede der von allem ausgeht, das Gottes Geschenk wurde, sobald es wohlgetan ist.“ (S. 51).

 

XI Hirten und Hirtinnen

 

“Wer noch so bescheiden, einige Schafe unter dem nächtlichen Sternenhimmel hütet, wird merken, daß er mehr ist als ein Diener“, sagt Saint-Exupéry (S. 123f). diese religiöse Stimmung atmen viele von Kellers Werken. Das archetypische Bild des Hirten setzt er als ein Symbol ein, das auch noch der Existenzphilosoph Heidegger verwendet, wenn er vom Menschen als Hirt des Daseins redet.

 

XII Einsames Haus

 

Das eindringlichste Motiv Kellers ist das einsame Haus, hinter dessen Fenstern ein Licht brennt. Kellers Zeitgenosse, der Dichter Charles Baudelaire, hat das Geheinmisvolle dieses Sujets in dem Zyklus seiner Prosagedichte“Le spleen de Paris“ einzufangen versucht:“Wer von draußen durch ein offenes Fenster blickt, sieht niemals soviel wie einer, der ein geschlossenes Fenster betrachtet. Nichts ist so tief, so geheimnisvoll, so furchtbar, so licht und so finster zugleich wie ein Fenster, hinter dem eine Kerze brennt. Was man im Sonnenlicht sehen kann, ist immer weniger reizvoll als das, was hinter einer Scheibe vorgeht. In diesem düsteren oder strahlenden Loch lebt das Leben, träumt das Leben, leidet das Leben.“ (in: Sämtliche Werke, Frankfurt/Main 1992, Bd. 8, S. 257).

Oft sieht man auf Kellers Gemälden auch mehrere Häuser, die sich zwischen schneebedeckten Hügeln ducken wie Vögel in ihrem schützenden Nest.“Die ganze Erde war übersponnen von Lichtgrüßen, jedes Haus zündete seinen Stern an vor der unendlichen Nacht, gleichwie man das Feuer eines Leuchtturms gegen das Meer wendet“, sagte der Nachtpilot Saint-Exupéry (S. 135). Die Albdörfer im Winter erzeugen beim Betrachter ein Gefühl von Wärme inmitten einer unwirtlichen Umgebung:“Die Krähen schrein und fliegen schwirren Flugs zur Stadt; es wird bald schnein, weh dem der keine Heimat hat“. (Fr. Nietzsche, Gedichte und Sprüche, Salzburg 1983, S. 210).

 

XIII Abend-und Nachtbilder

 

Zu dieser Spezialität des Malers gehört u.a. das seit 1895 nachweisbare Motiv“Marktbreit am Main“, über das Paul Schultze-Naumburg schreibt:“Keller-Reutlingen verzichtet nicht darauf, ein Farbenpoet zu sein. Da ist sein Blick auf Marktbreit. Feierliche Abendstimmung (…). Keller-Reutlingen ist nicht wuchtig in seiner Malerei, aber eine andächtige Naturversenkung stempelt ihn zum feinsinnigen Künstler. Aus seinem Abend spricht ein inniges, deutsches Element, dessen Zauber sich nicht leicht jemand entziehen kann.“

Laut Oswald Schoch endete ziemlich genau um 1895, als eben Kellers Marktbreit-Motiv zum ersten Mal nachzuweisen ist, die Langholzflößerei in Deutschland, und da gerade auf seinen Marktbreit-Bildern fast immer Langholzflöße abgebildet sind, fragt sich, ob der Maler nicht auch hier einer aussterbenden Branche seine Reverenz erweist und so einmal mehr der guten alten Zeit huldigt, deren liebenswerte Gepflogenheiten einer als fremd empfundenen modernen Technik weichen müssen.

 

XIV Straßenbilder

 

Der vom Münchener Haus der Kunst 1998 herausgegebene Katalog zur gleichnamigen Ausstellung“Die Nacht“ schreibt:“Die Straße wurde in Deutschland erstmals um 1900 von Lesser Ury und Ludwig Munthe malerisch umgesetzt.“ Dies ist nicht ganz richtig, da Keller schon 1893 und mehrfach 1897 seine“Schwanthaler Straße“ künstlerisch wiedergab. Hier kommen schon deutlich Aspekte städtischer Verbauung, Geschäftigkeit und Anonymität zum Vorschein. Auch bringt der Maler sich selbst ins Bild, indem er – mit Spitzwegschem Humor – von sich nur seine pinselhaltende Hand darstellt.

Bis Mitte der 80er Jahre malte er schon Straßenszenen von Neapel und anderen südländischen Städten, die er während seines Italienaufenthalts kennengelernt hatte. Es ist allerdings so, daß er hierbei nicht die großstadttypische Anonymität und Bewegung thematisiert, sondern eine eher genrehafte Betrachtungsweise einnimmt.

 

XV Varianten

 

Keller hat dasselbe Motiv z.T. oft wiederholt und dabei z.T. in unterschiedlicher Qualität gemalt. Eine geringere Sorgfalt der Ausführung und die damit verbundene Zeitersparnis machten das Bild für den Käufer entsprechend billiger. Dieser Unterschied fiel auch schon der Zeitung“Brucker Land und Leut“ (Jg. 1993, 29.5.1993) auf , wo zwei fast identische“Gänseliesln hinterm Haus“ verglichen werden: Das Bild aus dem Besitz der Stadt Fürstenfeldbruck“gehöre zu den schwächsten“ und spreche“von einer gewissen malerischen Wurstigkeit“, das andere sei „weitaus liebevoller gemalt“.Manchen Kunstkritikern passt es nicht ins Bild des Originalgenies, daß eigenhändige Kopien vorkommen: So beschwert sich auch Charles Baudelaire über die Wiederholungen des belgischen Malers Alfred Stevens (in: Sämtliche Werke, Frankfurt/Main 1992, Bd. 7, S. 352).

Keller scheinte das alles nicht zu stören. Er hat einige seiner selbsterfundenen Motive wegen großen Erfolgs so oft und so ähnlich gemalt, daß man zur Unterscheidung gründlich hinsehen muß.

Das Kopieren eigener Werke ist übrigens keine Neuerung, denn schon in den Werkstätten der alten Meister Rubens, Rembrandt, van Goyen etc. (Niederlande, Flamen) oder Lucas Cranach in Deutschland, wurden eigene Bildmotive von angestellten Malern für einen großen Markt reproduziert.

Trotz aller Ähnlichkeit der Motive auf den ersten Blick, sind die Bilder jedoch nie gleich, sondern unterscheiden sich oft in Details wie z.B. der Anzahl der Schafe, Wolken etc. oder der Anordnung der Wäschestücke auf der Leine.